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Wandern in Gedanken

Stimmen aus dem Off: Wandern in Gedanken

von Nora Sdun

„Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems.“ (Sigmund Freud, Totem und Tabu, 1913)

Ich bereite einen Spaziergang über die Kommunikationsapp Discord für die Not-JUZ-Gruppe vor, die Tilman Walther im März 2020 einrichtete. (Ich habe das „Not“ immer als englisches „nicht“ gelesen, also das „Nicht-Jugendzentrum“, nicht das „Not-Jugendzentrum“, was es wohl eher ist.)

Jedenfalls versammeln sich rund 20 Personen jede Woche am Donnerstag vor ihren jeweiligen Rechnern und gehen mit Hilfe von Google Street View oder Ähnlichem spazieren. Eine Person teilt dafür ihren Bildschirm mit allen anderen und gibt so den Weg vor. Auf diese Weise waren wir bereits in England, Polen, Bulgarien, Äthiopien, Benin, Somalia und im Einkaufszentrum Schenefeld. Ich leite die Menschen heute durch das schwedische Dorf Kåseberga zu einer Schiffssetzung, genannt Ales stenar – die Steine von Ale. Angeblich müssen alle schwedischen Bürger*innen einmal in ihrem Leben dieses Ding sehen: Riesensteine, die um 600 nach Christus von 1000 Jahre älteren Großsteingräbern zusammengeklaut wurden und in ihrer Anordnung ein Boot symbolisieren.

Ich verzettele mich komplett in der Vorbereitung. Ich möchte auf mir selbst unklaren Metaphern wie „Fähre“, „Magie“, „Verbindung“ oder „touristischer Hoax“ von der Schnellbootfähre, die zwischen Ystad und Bornholm verkehrt und im Hafen von Kaseberga „Schwell“ (etwa, große unklare Welle, physisch wie psychisch) macht, zu dem großen Steinschiff auf der Steilküste kommen. Dessen ursprüngliche Funktion ist ebenfalls nicht ganz klar.

Beim nervösen Herumklicken auf der Street-View-Karte lande ich im Spa von Kåseberga, in dem es diverse Bade- und Saunaeinrichtungen gibt. Statt vor der Schiffssetzung aus Riesensteinen, komme ich also vor seltsamen Plexiglaskuben, in denen man vielleicht seine Beine baden soll, gedanklich zum Stillstand – ein typisches Phänomen der letzten Monate, man rast gedanklich in sehr tiefe Sackgassen hinein und wundert sich dann warum man sich wundert.

Sprudelbäder mit Schwell wie im Hafen gibt es auch im Spa, die wassergefüllten Kuben bleiben mir aber ebenso rätselhaft wie die Schalensteine der Schiffssetzung, die zweckentfremdet (da sie eben zusammengeklaut wurden) nun die Schiffsform bilden. Apropos Schalensteine, magische Orte und hohler eigener Kopf – es ist, wie ich mir erklären lasse, „Fischpediküre“ die dort angeboten wird – die Fische fressen Hautpartikel, keine Ahnung ob das in Seuchenzeiten weiter angeboten werden darf. Zur Dekoration liegen pro Wasserkubus eine Amphore und einige Steinchen am Grund – vielleicht wohnen die Fische in der Amphore, vielleicht sind es genauso viele Steinchen wie die Schiffssetzung Steine hat, das wären 59 Stück.

Bei der Anordnung der Steine in der Ales-stenar-Anlage auf der hohen Steilküste im Süden Schwedens handelt es sich angeblich um einen bronzezeitlichen Sonnenkalender – eine Behauptung, die von der Fachwelt immer wieder dementiert wird, was das Tourismusamt Ystad aber nicht davon abhält, Informationstafeln mit dieser falschen Bezeichnung „Sonnenkalender“ aufzustellen. Eine bauliche Anlage so auszurichten, dass die Bug- und Hecksteine jeweils die Sommer- und Wintersonnenwende markieren, macht noch keinen Kalender. Altarräume sind auch geostet, oder „orientiert“, also in Richtung auf den Orient oder eben zur aufgehenden Sonne zeigend. Das macht nicht jede Kapelle zu einem Kalender, oder eben nur zu einem Viertelbestandteil eines Kalenders... Wenn die Sonne zum Ostfenster hineinscheint, ist es der Morgen eines Tages. Die Frage wäre, welchen Tages, welcher Woche, welchen Jahres?

Die Hamburgerin Nora Sdun ist Mitherausgeberin des Magazins Kultur & Gespenster und arbeitet beim Textem Verlag.

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