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Territorien in der Literatur oder Warum ist vom „Turkish Turn“ bislang nur in den USA die Rede?

von Nesrin Tanç

Über die Literatur des „Potts“ zu schreiben ist eine mehrdimensionale Angelegenheit, dabei sticht besonders ein blinder Fleck hervor. Dieser blinde Fleck zieht sich durch die komplette kulturhistorische Literatur- und Kunstwissenschaft. Aber auch durch die Kulturgeschichtsschreibung einer Region oder beispielsweise einer Stadt wie Duisburg. Blickt man in die Buchhandlungen, auf die Straßennamen, in die Leporelli der Theaterhäuser, in die Kalender der Stadtbibliotheken, egal wohin man blickt, der Blick führt ins Nichts. Es scheint, als habe die Literatur der Einwander*innen aus der Türkei in der Geschichtsschreibung der Region keinen nennenswerten Effekt hinterlassen. Zumindest keinen Effekt, der kultur- oder literaturwissenschaftlich abgebildet worden wäre. Dabei gibt es zahlreiche Werke von Autor*innen aus dem Ruhrgebiet, die die Kulturgeschichte Deutschlands und der Türkei, auch in ihren eigenen Biografien, verbinden.

Als Orhan Pamuk als Literaturnobelpreisträger im Oktober 2017 nach Essen kommt, will er die Lesung in der Lichtburg Essen nicht beenden, ohne auf Duisburg und die Exilant*innen aus der Türkei zu sprechen zu kommen. Pamuk ist als unbekannter Autor in den 1980er durch Lesereihen, die von Exilant*innen aus der Türkei organisiert wurden, regelmäßig nach Duisburg gekommen. Wovon spricht Pamuk?

First Generation
Duisburg als Territorium der Arbeit

Die 1970er Jahre in Duisburg sind gezeichnet von der Industrialisierung, Überdruckfackeln der Hochöfen und den Türkensiedlungen – der türkmahalle. Im Vergleich mit den anderen Ruhrgebietsstädten leben hier 1980 die meisten Türken. „Die in Duisburg lebenden Kurden sind als Türken registriert“, heißt es in einem amtlichen Informationsblatt. Neben den Arbeitsmigrant*innen und ihren Familien machen zahlreiche Exilant*innen aus der Türkei Halt in Duisburg. So auch Fakir Baykurt. Baykurt ist zu dieser Zeit bereits ein Schwergewicht der sozialistischen Literatur und vor allem der Dorfliteratur, die für die Aufklärung und Bildung einer anatolisch-humanistischen Bildungselite in der Türkei steht. Baykurts literarisches Territorium sind die Menschen aus Anatolien und des Ruhrgebiets. Sozialistischer Realismus on the Route of Arbeitsmigration.

Baykurt lebte ab 1979 in Duisburg und ist der prominenteste unter den türkischsprachigen Ruhrgebietsliteraten der 1980er Jahre. Er schrieb eine Duisburg-Trilogie Yüksek Fırınlar (Hochöfen), 1983, Koca Ren (Mächtiger Rhein), 1986, Yarım Ekmek (Halbes Brot), 1998, und mehrere Erzählungen über das Ruhrgebiet. Im Jahr 1986 gründete Baykurt den Arbeitskreis Kuzey Ren Vestfalya Türkiyeli Yazarlar Çalışma Grubu (Schriftstellerinnen aus der Türkei in Nordrhein-Westfalen). Baykurt setzte damit ein Zeichen, mit der Aussage, dass Literatur 1) Medium des kulturellen Lebens und der Zeitzeugenschaft und 2) ein Mittel der Partizipation als Grundrecht der Zivilgesellschaft ist.

Auf institutioneller Ebene gelten der im Jahr 2014 eingeführte Fakir Baykurt Kulturpreis der Stadt Duisburg sowie die Benennung des Fakir-Baykurt-Platzes in Duisburg Homberg als bedeutende Ergebnisse des kulturellen Austauschs und der Prägung. Allerdings erscheint der Fakir-Baykurt-Platz, der ein Parkplatz ist, wie eine Verdichtung von Irritationen. Ein Parkplatz vor einem Einkaufszentrum für einen transnational agierenden, sozialistischen Literaten, der sein Leben wesentlich mehr der Bildung gewidmet hat, als dem Konsum.

Territorium, Interpretation und Irritation: Baykurt verbrachte bis zu zwanzig Jahre damit, über die Menschen der Region Ruhrgebiet zu schreiben und wird im Jahr 2019 noch immer nicht als Teil der regionalen Literatur des Ruhrgebiets oder zumindest als Teil der Auseinandersetzung mit der Form der 'literarischen Regionaliät' hinreichend zur Kenntnis genommen. In den in Deutschland verfassten Werken beschäftigt er sich intensiv mit der geschichtlichen Verantwortung der deutschen Nachkriegsgesellschaft, was wiederum in der Rezeption Baykurts in der Türkei bisher keine Rolle spielt und den anfangs erwähnten blinden Fleck aus der Türkei befördert. Baykurt hat mit seinem Schreiben über das Territorium der Türkei, den anatolischen Humanismus begonnen und endet bei den Einwander*innen in Duisburg.

First Generation für alle
Bilderbuchbergmänner in Hell

Bei Emine Sevgi Özdamar stritten sich zu Anfang ihrer Karriere alle möglichen Akteur*innen darüber, ob sie zur deutschen oder zur türkischen Literatur gehört. Für Textauszüge ihres ersten Romans Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein – aus der anderen ging ich raus, 1992, erhielt sie 1991 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihr Erzählband Mutterzunge aus dem Jahr 1999 versammelt vier Erzählungen, die wie Meilensteine der Literatur zwischen Deutschland und der Türkei wirken: Mutter Zunge, Großvater Zunge, das in Prosa verfasste Theaterstück Karagöz in Alamania (Schwarzauge in Deutschland) und Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutschland.

Özdamars Themen sind Theaterbühnen und die Weltliteratur zwischen Deutschland und der Türkei. Sie reagiert auf die dazugehörigen Fragen, in dem sie gleichzeitig über kollektive Schuld, die Verantwortung und die Freiheit des Individuums schreibt. Ihre Figuren sind entweder in Deutschland verortet, in der Türkei oder an surrealen Orten, wie dem „Hurenzug“ auf dem Weg nach Europa oder am Tränenteich in einem halb verbrannten Wald, der sich als das Territorium der deutschen Schuld herausstellt.

Mit der Neuerzählung der Homerschen Heldendichtung Odyssee schreibt Emine Sevgi Özdamar Perikızı – Ein Traumspiel im Auftrag der RUHR.2010 und auf Einladung des Intendanten des Schlosstheater Moers Ulrich Greb. Özdamars Ruhrpott Odyssee Europa trägt Grundzüge ihres Bildungsromans Die Brücke vom Goldenen Horn, 1998, als auch von der Erzählung Das Mädchen aus dem halb verbrannten Wald, 2007, und stellt einen neuen Umgang mit dem Homerschen Urtext dar: Özdamar verkehrt das Geschlechterverhältnis, indem der klassisch männliche Sagenheld in ihrer Erzählung ein Feenmädchen ist. Özdamars Text erinnert an die neue Hochkultur im Stil von René Pollesch und Christoph Schlingensief, die die Aura klassischer Texte demontieren und in einen brutalen Zusammenhang von Individualität und Illusion stellen. Dadurch wird der universelle Rahmen, in dem sich die Figuren bewegen, vergegenwärtigt, gleichwohl surrealistische und hochpoetische Momente wie halb reale, halb ireeale Zustandsbeschreibungen wirken.

Das Traumspiel beginnt mit dem längsten Kapitel „Das Meer steigt, wer weiß warum. Perikızıs Aufbruch“ in Istanbul zu Zeiten der türkischen Republikgründung und erzählt die Geschichte des Feenmädchens Perikızı, das in das Theater vernarrt ist und nach Europa möchte. Bereits auf der zweiten Seite setzt Özdamar die klagende Großmutter von Perikızı ein. Während Perikızı die Perspektive ihrer Großmutter einnimmt und durch ihre Zeitzeugenschaft den Ersten Weltkrieg und die Trauer um Vertreibung und Mord aus Anatolien aus der Sicht der armenischen Toten vergegenwärtigt, sitzen ihre Eltern im Kino und schauen sich den Film Vom Winde verweht an.

Es folgt ihre Reise im „Hurenzug“ durch das kriegsverwüstete und traumatisierte Jugoslawien nach Europa und später ins Ruhrgebiet. Özdamar notiert dazu Bühnenanweisungen zum „Ruhrpottdialekt“. Die vorbildlichen „deutschen und türkischen Bilderbuchbergmänner“ steigen aus der Hölle und sollen – der Bühnenanweisung Özdamars folgend – den 'Ruhrpottdialekt' des Kabarettisten Jürgen von Manger und seiner Ruhrgebietsfigur Adolf Tegtmeier übernehmen und den Urtext der Odyssee, explizit die Episode „Darf Odysseus nach Hause?“, rezitieren. Die Konstruktion des Ruhrgebiets als Schauplatz der Odyssee gründet bei Özdamar nicht auf dem regionalen Territorium, sondern trägt das Spezifische des Ruhrgebiets in die Figuren der „deutschen und türkischen Bilderbuchbergmänner“.

Mit zahlreichen Fabelgestalten zeichnet Özdamar die Verwobenheit und die Mehrschichtigkeit der Gewaltpolitik beider Staaten nach. Mit dem Niemand-Werden, dem Nichts-Sein, dem Übersehen-Werden ist es möglich den Gefahren – die in Europa zu drohen scheinen – zu entgehen. Das Gedächtnis spielt dabei eine krisenreiche Rolle: Es fehlt! Özdamar attestiert hohle Verbindungen in der Geschichtsrekonstruktion der „Schuldgefühle-Giganten“. Die „Schuldgefühle-Giganten“, die „peitschenden nationalistischen Hühner“ und die türkische Dolmetscherin haben – ebensowenig wie das rhizomatische Ruhrgebiet – kein Gedächtnis. Daran droht das Individuum in Özdamars Traumspiel zu zerbrechen. Die Frage nach dem individuellen Menschen ist bei Özdamar verknüpft mit der Aufarbeitung von Gewaltverbrechen und Genoziden. Das Erinnern ist nicht mehr ein Sündenfall und eine zu tragende Schuld, sondern eine Bedingung für das Überleben jedes Einzelnen.

Next Generation
Die Karte ist nicht das Gebiet

Der bekannte Spruch The Map is not the Territory ist im Kontext des Ruhrgebeits, der Literatur und Kultur der Einwanderer*innen aus der Türkei sehr hilfreich: The map oder auch die geschriebene und sichtbare, die verwahrte Geschichte des Territoriums ist nicht diejenige, die tatsächlich vorhanden ist. Womit wir wieder bei den blinden Flecken wären.

Aber ist es nicht so, dass das Aufzeigen von Lücken, blinden Flecken und ungeschriebenen Geschichten in Bezug auf die Einwander*innen und ihrer Nachkommen, auf vielen Ebenen problematisch ist? Findet darin nicht ein Konflikt Ausdruck, in dem den 'typisch deutschen Rezipient*innen' ein Unwissen und fehlender Zugang zu den Narrativen von Autor*innen wie Emine Sevgi Özdamar, Fakir Baykurt, Yaşar Kemal, Kemal Yalçın – um nur einige zu nennen – unterstellt wird? Gehören Wissenschaftler*innen und Studierende, die Nachkommen von Einwanderer*innen nicht zu den 'typisch deutschen'-Leser*innen? Die Annahme, dass 'normale deutsche Leser*innen', die migrantische Perspektive nicht kennen würden, behauptet, dass die migrantische Perspektive nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist. Diese Annahme fußt auf der unausgesprochenen Festlegung, dass zweisprachige Wissenschalfter*innen und Leser*innen keine 'normalen deutschen'-Rezipient*innen seien. Liegt nicht darin der Grund für die fehlende Sichtbarkeit, die fehlende Analyse und Einordnung der Texte und Autor*innen? Was ist mit dem Recht auf Werterhaltung? Erlischt dieses Recht sobald die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt wird? Sollen die Nachkommen der Einwanderer*innen aus der Türkei, die im Ruhrgebiet leben ihre Geschichte selbst erzählen und verwahren?

Bereits im Jahr 2001 hat die US-Germanistin Leslie A. Adelson in ihrem Manifest Against between. Ein Manifest gegen das Dazwischen auf die Notwendigkeit der Wendung und Transformation in der Interpretation der Erzählungen von Autor*innen aus der Türkei und ihrer Literatur in Deutschland hingewiesen. Was bedeutet das genau? Und warum löst die bloße Nennung der Forderung, nicht nur Dazwischen, sondern mittendrin zu sein, Empörung bis hin zu sichtbarer Panik aus? Adelson spricht von einem Potential für eine bundesdeutsche transnationale Grundlage, so wie auch Kader Konuks Identitäten im Prozeß, 2001, oder Azade Seyhans Writing Outside the Nation, 2001, diese und ähnliche Prozesse beschreiben. In ihrem Buch The Turkish Turn in Contemporary German Literature: Toward a New Critical Grammar of Migration, 2005, spricht Leslie A. Adelson im Hinblick auf diese Entwicklungen vom Turkish Turn.

Während in der US- amerikanischen Forschung mit dem Turkish Turn eine notwendige Wende auszudrücken versucht wird und große Beachtung und Rezeption erfährt, ist in der Germanistik oder Kulturwissenschaft in Deutschland kein vergleichbarer Perspektivenwechsel zu verzeichnen. Innerhalb der Rezeption der Ruhrgebietsliteratur gibt es keine einzige Analyse, die nicht von einer 'Migrantenliteratur' spricht, die neben einer homogen – nicht migrationsgeprägten – Literatur koexistiert. Gleichwohl beinahe alle Studien zu der literarischen Landschaft im Ruhrgebiet eine kulturelle und sprachlich vielfältige Literaturlandschaft aufzuzeigen versprechen. Partielle Nennung finden Fakir Baykurt und Emine Sevgi Özdamar, wobei die wissenschaftliche Einbettung in den türkischen Kontext gänzlich fehlt. Das ist bezeichnend, weil besonders Özdamar und Baykurt sich gleichermaßen der türkischen und der deutschen Kulturgeschichte widmen. Die Grenze der literarischen Zugehörigkeit ist nicht das Territorium, es ist nicht mal die Sprache, sondern die fehlende Überzeugung, dass die Narrative der Einwanderer*innen Teil der Region sind und daher keine separate Geschichte erzählt wird, wenn es um Migration geht, sondern eine Literatur- und Kulturgeschichte, die Teil einer größeren Erinnerungsgemeinschaft ist.

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