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Wie viele Träume liegen zwischen uns

von Esra Canpalat

Ich stehe am Bahngleis. Es ist zu spät. Oder auch zu früh. Um diese Zeit keine Durchsagen mehr, keine elektronischen Entschuldigungen. Ich habe Lena gerade zu ihrem Gleis gebracht. Sie hat mit mir gewartet. Wir haben noch einen Tee in meiner Küche getrunken, bevor wir zum Bahnhof gingen. Meine Bahn fiel aus, die nächsten verspäteten sich. Ich aktualisierte immer wieder die App. Als würde ich die Verspätungen mit meinem Daumen verursachen, stiegen die roten Zahlen immer weiter nach oben. Ich sagte zu Lena, sie könne ruhig schon fahren. Sie wollte bleiben. Doch eigentlich träumte sie bereits, als wir in meiner Küche saßen, rieb sich die Augen, um wach zu bleiben, aber war schon mehrere Träume weiter. Im Traum saß sie bereits in ihrer Bahn. Genau in die andere Richtung, nach Essen. Im Traum war sie bereits zuhause in ihrem Bett und träumte. Vielleicht lagen noch mehr Träume zwischen uns. Vielleicht war sie schon längst in England, wo sie demnächst hinziehen wird. Vielleicht lag sie dort in ihrem neuen Zuhause und träumte weiter.

Ich frage mich, ob Lena sich fragte, warum ich ausgerechnet in die verschlafene Stadt fahren will, aus der wir beide uns vor Jahren herausgeträumt hatten. Warum ich nicht bis zum nächsten Morgen warte, warum ich all die Verspätungen und all die unausgesprochenen Entschuldigungen in Kauf nehme, warum ich mit aller Sturheit, die ich in meinem übermüdeten Zustand noch aufbringen kann, mit meinem viel zu schweren Koffer am Gleis stehe und darauf bestehe, diese Irrfahrt ins östliche Ruhrgebiet auf mich zu nehmen. Ein paar Nächte habe ich bei Rika geschlafen. Ich könnte meine neue WG fragen, ob ich vielleicht jetzt schon in das Zimmer einziehen kann. Aber ich kann nicht. Ich muss erst wieder lernen zu träumen.

In meiner Wohnung in Bochum kann ich nicht bleiben, seit ich weiß, dass die Frau nur 500 m Luftlinie entfernt von mir wohnt. Seit ich die Schritte gezählt habe bis zu der Stelle, an der sie mich attackierte. Die ersten Nächte konnte ich nicht schlafen. Sobald ich die Augen schloss, sah ich ihre viel zu hellen Augen. Ich ging in Svenjas Zimmer, legte mich zu ihr, sie nahm mich in den Arm. Erst als ich hörte, wie sie sanft ein- und ausatmete, wie sie von einem Traum zum nächsten lief, konnte ich endlich einschlafen. Seit Svenja nicht mehr da ist, nicht mehr im Nebenzimmer träumt, ist das hier ohnehin kein Zuhause mehr. Ich frage mich: Wie viele Träume ist Dresden entfernt?

Ich muss wieder lernen zu träumen. Wegziehen reicht nicht. Kilometerzahlen reichen nicht. Ich will so viele Träume wie möglich an Entfernung zwischen mir und dieser Frau wissen, bevor ich wieder zurückkommen kann. Bis ich wieder glauben kann, dass es mehr im Leben gibt als diese hellen Augen, die schon lange aufgehört haben zu träumen. Außer mir wartet noch eine weitere Person am Bahnsteig, die die Treppen zum Gleis immer wieder hoch- und runtergeht. Ich versuche mich mit Instagram wachzuhalten, strecke meine Beine auf dem Koffer aus, klammere mich fester an meine Jacke. Als der Zug endlich einfährt, ist eine weitere Stunde vergangen. Ich lehne meinen Kopf gegen die schmierige Fensterscheibe, hoffe ohne weitere Komplikationen endlich anzukommen, endlich wieder träumen zu können. Noch vier Stationen zwischen mir und dem Träumen. Ich bin erschöpft, aber ich schaffe es noch, ein paar Träume zwischen jetzt und später zu quetschen.

Früher stieg ich in Züge, um wegzukommen. Ich stieg in Züge, um zu träumen. Zehn Minuten und wir waren in Dortmund. Nochmal zehn Minuten Fußweg und wir waren im Domicil. Monday Night Sessions waren umsonst. Wie prätentiöse Beatniks hörten wir uns Jazzimprovisationen an. Wir waren unerträglich. Später versuchten wir die letzte Bahn zu erwischen. Gleis 8. Genau wie jetzt lehnte ich damals meinen betrunkenen Kopf gegen die Fensterscheibe. Ich sah die Schatten der Industriehallen, kurz nachdem der Zug aus dem Dortmunder Bahnhof rausfuhr. Ich sah die Schatten der Kaffeerösterei, die roten Lichter der Faultürme, die wie gigantische Champignons aussahen. Ich sah die Fußgängerunterführung mit dem blauen Fahrradweg, den ich mit Freundinnen nutzte, wenn wir zu einer Hausparty fuhren. Ich sah die Bahnschranke, schließlich Felder und am Rande des Horizonts die Reihenhäuser der bürgerlichen Kinder aus meiner Schule, die ich alle verabscheute. Ich sah in der Ferne den Fördertürm der Zeche, dunkelbraune Silhouette auf schwarzem Nachtgrund, kaum wahrnehmbar. Dort wohnte ich. Dort träumte ich.

Dazwischen Bäume, deren dreckig-grüne Blätter ich bei der Hinfahrt im Tageslicht auswendig gelernt hatte. Ich schloss die Augen und träumte. Ich träumte, wie ich zwei Jahre später in genau dieser Bahn sitzen werde, von der Uni nach Hause fahren werde. Ich träumte, wie ich versuchen werde aus dem Fenster zu schauen, im Dunkeln aber nur die Reflexion meines neonfarbenen Gesichts sehen werde. Wie ich mich fragen werde, ob ich glücklich bin. Wie ich weinen und denken werde: Nein.

Wie damals schaue ich mich selbst im Fenster an, bis ein Stück Industriehalle mein Gesicht durchbricht. Ich denke an meinen Vater. Wie er ebenfalls in einen Zug stieg, um zu träumen. Obwohl ich überhaupt nicht weiß, ob er je in einen Zug gestiegen ist. Vielleicht war er ja einer der Männer, die ich auf den schwarzweißen Filmaufnahmen gesehen habe. Einer der Männer, die den weinend am Gleis stehenden Verwandten aus dem Zugfenster hinauswinkten. Vielleicht träumte mein Vater von Almanya. Vielleicht träumte er auf dem Weg nach Almanya. Vielleicht sah er wie ich die Bäume, die niemals so grün waren, wie die am Schwarzen Meer, und schwor sich, sie niemals auswendig zu lernen, so schnell es eben geht, sich hier wieder herauszuträumen. Vielleicht träumte er von mir, wie ich im Zug sitzen, zur Uni fahren und träumen würde. Vielleicht träumte er aber auch gar nicht, weil man sich mit Träumen kein Brot kaufen konnte. Vielleicht träumte er nicht, damit ich träumen konnte. Wie viele Träume lagen zwischen uns?

Ich träume weiter von meinem Vater, während Kaffeerösterei, Faulturm und mein Gesicht ineinander übergehen. Ich träume, wie er, eine Schlafmütze aus Strick auf seinem Kopf, von den Bäumen in seinem Dorf träumte, während ich nebenan in meinem Zimmer mehr Abstand als diese Wand zwischen uns träumte. Ich träumte weiter und weiter, bis ich nicht mehr in diesem Kaff war, in das mein Vater uns gebracht hatte, bis ich nicht mehr den Förderturm der Zeche sah, von der ich immer gedacht hatte, mein Vater arbeite dort, denn warum sonst lebten wir dort, träumten wir dort, bis ich erfuhr, dass er an einem ganz anderen Zechenstandort gearbeitet hatte. Ich träumte, bis die Industriehallen immer kleiner wurden, bis die Faultürme erst die wirkliche Größe eines Champignons erreichten, dann mikroskopisch klein wurden.

Ich schließe die Augen, als ich die Felder sehe. Ein kleiner Traum passt noch zwischen mein Augenlid und das Ziel. Ich träume, wie ich meinen Koffer durch die dunklen und leisen Kleinstadtstraßen ziehen werde. Wie nur noch die Kaninchen im Park und die Bewegungsmelder der Reihenhäuser wach sein werden. Wie die Zeche immer weiterwachsen wird. Wie ich in mein altes Zimmer gehen werde, in dem seit dem Tod meines Vaters meine Mutter schläft. Wie ich mich in ihr Bett legen werde und dieselbe grüne, verblichene, rissige Tapete an den Wänden sein wird wie damals, als ich hier lag und mich wegträumte. Wie ich die Augen schließen und träumen werde. Immer weiter weg, bis die Zeche und die Reihenhäuser, die Felder, die Pilze, die Hallen und die Bäume wieder kleiner und kleiner werden. Wie ich sogar noch viel weiter träumen werde, nach Dresden zu Svenja. Wie ich wieder neben ihr liegen und mit ihr träumen werde. Wie ich im Spätsommer über das Dorf meines Vaters fliegen und am Schwarzen Meer träumen werde. Wie ich mit Julia über die Galatabrücke laufen und wir singen werden: I wonder if you look both ways when you cross my mind.

Ich steige aus dem Zug. Es ist zu spät. Oder auch zu früh. Aber ich träume weiter. Ich laufe weiter zum nächsten Traum.

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