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Das demokratische Potenzial der Digitalisierung c Heinrich Holtgreve Ostkreuz

Das demokratische Potenzial der Digitalisierung

von Arne Semsrott

Das Wissen der Welt ist versteckt in PDF’s, die niemand liest. Das Wissen über unsere Umwelt ist da, aber die Daten der Forscher*innen und Gutachter*innen sind meist nicht auffindbar, werden in staatlichen Aktenschränken gefangen gehalten oder verkümmern hinter Bezahlschranken privater Verlage.

Eigentlich schafft die Aarhus-Konvention, die Deutschland im Jahr 2007 ratifiziert hat, eine gute Grundlage für Transparenz im Umweltbereich. Der völkerrechtliche Vertrag, der auf EU-Ebene und in allen EU-Mitgliedsstaaten gilt, gibt allen Menschen das Recht, Umweltinformationen vom Staat zu erhalten. Zum Schutz der Umwelt müssen Politik und Verwaltung transparent sein. Die Konvention wurde in Deutschland im Umweltinformationsgesetz (UIG) umgesetzt. Sie macht klar, was hierzulande nicht selbstverständlich ist: Herrschaftswissen war gestern. Das Wissen des Staates ist auch das Wissen der Bürger*innen. Umweltinformationen, die bei öffentlichen Stellen liegen, sind grundsätzlich auf Anfrage herauszugeben. Sollen sie geheim bleiben, muss dies von Behörden stichhaltig begründet werden. Der Begriff der Umweltinformationen ist sehr weit auszulegen: Im Prinzip beinhaltet er alle Informationen, die mit Luft, Boden oder Wasser zu tun haben, alles, was stinkt, laut ist oder etwas kaputt macht. Daher hat beispielsweise der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Jahren auf Antrag über die Transparenzplattform Frag- DenStaat preisgeben müssen, welche öffentlichen Quellen er zur Beobachtung von Ende Gelände nutzte.

Auch im Ruhrgebiet erblicken immer wieder Datenschätze das Licht der Öffentlichkeit: Auf der Open-Data- Plattform der Ruhr-Region wollen die beteiligten Kommunen offene Datensätze zentral veröffentlichen und zur Nachnutzung freigeben – etwa Baumkataster, Klimadaten und Gutachten. Der Regionalverband Ruhr hat eine Übersicht sämtlicher Klimaanalysen, die seit 1974 angefertigt wurden, publiziert. Aktivist*innen etwa von der Initiative OpenRuhr treffen sich regelmäßig, um offene Daten der Region zu nutzen und nutzbar zu machen, beispielsweise mit Übersichtskarten und Visualisierungen. Auch Ableger der zivilgesellschaftlichen Initiative luftdaten.info sitzen im Ruhrgebiet. Sie versuchen, vorhandenen Informationslöchern der Behörden eigene Daten entgegenzusetzen. Mit günstigen Eigenbausätzen können User*innen in dem Projekt Luftsensoren basteln, die etwa am Balkon den Feinstaub in der Umgebung messen und automatisch die Daten zur freien Weiterverwendung online zur Verfügung stellen. Tausende Luftsensoren ergeben so über Jahre ein eindrückliches Bild der Feinstaubentwicklung in deutschen und anderen Städten der Welt. Verbunden mit Projekten wie der OpenStreetMap können die Daten so in verschiedenen Kontexten frei genutzt werden.

Durchgesetzt hat sich die Transparenzleitlinie allerdings noch lange nicht bei allen deutschen Behörden. Sie nutzen die Schlupflöcher des Gesetzes, um ihren Pflichten zu entkommen: So können sie für Auskünfte Gebühren erheben und damit effektiv Transparenz verhindern. In der Regel müssen für aufwendige Anfragen maximal 500 Euro gezahlt werden, in Bayern sogar 2.500 Euro. Und auch darüber, wie Bürger*innen die Daten erhalten, schweigt sich das Gesetz aus. So ist das Bundesverkehrsministerium dazu übergegangen, bei Anfragen nach Datensätzen teilweise Excel-Tabellen auszudrucken, sie einzuscannen und abermals auszudrucken, um sie dann per Post an Antragsteller* innen herauszugeben. Dem Informationsgebot kommt es damit formell nach, zur Weiterverwendung sind die schiefen Datensätze auf Papier freilich nutzlos. Ein freies Datenökosystem ist aber eine Voraussetzung für demokratische Emanzipation. Das zahlreiche Expertenwissen in der Bevölkerung, das von der Politik vielfach unbeachtet bleibt, würde sich auf Basis amtlicher Daten stärker Gehör verschaffen. Könnten sich Bürger*innen frühzeitig über politische Entwicklungen informieren, könnten sie darauf früher Einfluss nehmen. Nicht ohne Grund werden offene Daten der Verwaltung vor allem dort besonders intensiv genutzt, wo es gleichzeitig Möglichkeiten der Mitbestimmung gibt. Die Stadt Madrid etwa verbindet seit einigen Jahren die Öffnung ihrer Verwaltungsdaten mit der eigens programmierten Online-Plattform Consul, auf der Bürger*innen der Stadt über einen Teil des Stadtbudgets mitbestimmen können. Consul ist eine freie und offene Software, die auch von anderen Kommunen weiterverwendet werden kann, inzwischen schon in 33 Ländern. Freie Software ist deutlich günstiger als ihre proprietären Gegenstücke – und ein wichtiges Teilstück, um Kommunen technologisch unabhängig von großen Konzernen wie Microsoft zu machen. Die wiederum verkaufen jetzt schon eifrig proprietäre Softwarelösungen an Kommunen, um Verkehrs-, Energie- und Menschenströme zu messen und ganz nebenbei die Daten für ihre eigenen Geschäftsmodelle zu nutzen. Die Deutsche Telekom etwa verkauft gemeinsam mit der IT-Firma Cisco von Hamburg bis Pisa „intelligente Parkleitsysteme“ und Straßenbeleuchtungssysteme, die Daten über Temperatur- und Lichtverhältnisse sammeln. Bestandteil derartiger Angebote werden in Zukunft immer häufiger automatisierte Entscheidungsprozesse sein, bei denen die Messung bestimmter Daten reale Konsequenzen hat – vom Polizeieinsatz im Rahmen von „Predictive Policing“ bis hin zur Performancemessung von städtischen Angestellten.

Die Frage nach der technologischen Souveränität ist vor allem für die sogenannten „Smart Cities“ relevant. Indien investiert im Rahmen seiner Smart Cities Mission bis 2022 insgesamt 15 Milliarden US-Dollar, um 100 Kommunen „smart“ zu machen. In diesen Städten werden große Teile der Infrastruktur ins Internet der Dinge eingebunden. Sensoren in Autos, Videokameras, Straßenlaternen, Ampeln, Gärten und Reihenhäusern erheben Daten über das urbane Leben.

Auch das Bundesbauministerium investiert – beispielsweise 17 Millionen Euro in die fünf Städte Soest, Olpe, Menden, Arnsberg und Bad Berleburg. Sie sollen ab 2020 in einem Modellprojekt erforschen, wie eine integrierte Stadtentwicklung aussehen kann, die Aspekte der Digitalisierung berücksichtigt und nachhaltig gedacht ist – ökologisch, ökonomisch und sozial. Isolierte Lösungen für individuelle Kommunen werden dabei keine Zukunft haben. Mehr noch als die einzelne Smart City bergen Smart Regions das Potenzial auf nachhaltige Lösungen. Auch das Ruhrgebiet zählt dazu. Gemeinsame offene Software und Hardware-Entwicklungen sowie Mobilitätskonzepte, die wiederverwendet werden können, erzeugen nicht nur Synergieeffekte, sondern sparen auch Geld. Dazu müssen Kollaborationen zwischen den einzelnen Kommunen gestärkt werden. Der Standortwettbewerb untereinander ist nicht sinnvoll, wenn Innovationen nur durch Kooperationen gelingen können. So können etwa Apps, die auf offenen Mobilitätsdaten basieren, nur funktionieren, wenn nicht nur Dortmund seine Daten freigibt, sondern auch Duisburg und Bochum. Wenn Menschen sich in ihrem Alltag in einer Region bewegen und nicht an Stadtgrenzen haltmachen, müssen auch Konzepte für eine nachhaltige Stadtgestaltung die Region in den Fokus nehmen. Dabei ist auch die Frage zentral, ob in der Stadt von morgen der Zugriff auf kommunale Daten für Unternehmen oder für alle offen ist. Ob dahinterliegende Algorithmen öffentlich kontrolliert oder als Geschäftsgeheimnisse der Privatwirtschaft gehütet werden, ist letztlich auch für die Legitimation der Demokratie von Belang.

Es bieten sich viele Möglichkeiten, die smarte Stadt auch technologisch souverän zu machen – mit eigens entwickelter Software und Hardware, die offen ist und der Öffentlichkeit gehört. Die informationelle Souveränität der Gesellschaft hängt auch mit der technologischen Souveränität der Infrastruktur zusammen. Wer Macht über die Daten hat, hat Macht über die Gesellschaft.

Unter dem Titel Digitaler Wandel – Kulturelle Potenziale von Technologie fand im September im Dortmunder U die 8. Kulturkonferenz Ruhr statt. Das unter anderem von Inke Arns (Hartware MedienKunstVerein), Stefan Hilterhaus (PACT Zollverein) und Fabian Saavedra-Lara (medienwerk.nrw) konzipierte Programm problematisierte zu Recht die Handhabung von digitalen Bürgerdaten und zeigte mit der Einladung zur Keynote an die Datenbeauftragte der Stadt Barcelona, Francesca Bria, einen grundsätzlich anderen, demokratischen Weg auf. Davon ausgehend hat der Autor Arne Semsrott die Bedingungen, Möglichkeiten und Hindernisse im Ruhrgebiet recherchiert.

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