Der sichtbare Horizont
von Meehan CristDas zweite Buch der Metamorphosen des römischen Dichters Ovid beginnt mit einer Geschichte, die sich als Klimametapher interpretieren lässt. Phaeton, der hitzköpfige Sohn des Sonnengottes Phoebus, lebt mit seiner sterblichen Mutter auf der Erde und hadert damit, nicht als rechtmäßiger Sohn des Gottes anerkannt zu werden. In der Hoffnung, seine Abstammung beweisen zu können, macht Phaeton sich auf in den Himmel und erbittet von Phoebus ein Zeichen, dass dieser tatsächlich sein Vater ist. „Bitte mich um jeden Gefallen, den du möchtest“, meint Phoebus, „und ich werde ihn dir gewähren.“ Der Knabe antwortet: „Ich möchte den Sonnenwagen
lenken.“ Diese Bitte lässt den Sonnengott erschaudern.
Mit dem fraglichen Sonnenwagen zieht Phoebus Tag für Tag die Sonne über den Himmel. Dieser goldene Wagen wird von einem Gespann prächtiger Pferde gezogen, die nur der Sonnengott beherrschen kann. „Bitte mich doch um etwas anderes“, fleht er den Sohn an. „Ersuche mich nicht um etwas, das nur in deinem Untergang enden kann. Du bist zu jung und nicht stark genug. Nicht einmal die anderen Götter sind in der Lage, diesen Wagen zu beherrschen.“
Phaeton bleibt jedoch eigensinnig und besteht darauf, mit dem Sonnenwagen des Vaters zu fahren. Schließlich gibt Phoebus nach. Er übergibt Phaeton die Zügel und schon machen sich Knabe und Gespann auf in den Himmel. Als sie jedoch durch den Tierkreis rasen, erschrecken die Pferde vor all den furchterregenden Erscheinungen am Himmelsgewölbe und scheuen. Der Knabe kann sie nicht mehr kontrollieren. Er wird in die dunkelsten, äußersten Grenzen des Weltraumes geschleudert, während die Pferde wenden und wieder in Richtung Erde rasen, der sie jedoch zu nahekommen, wodurch der flammende Sonnenball die Erdoberfläche versengt. Phaeton blickt hinab und sieht die in Flammen stehende Erde.
Feuer ergreift nunmehr an den ragenden Höhen die Erde:
Berstend zerreißt der Grund und lechzt, da die Säfte
versieget.
Dürr entfärbt sich das Gras; mit dem Laube verbrennen
die Bäume,
Und die getrocknete Saat gibt Stoff dem eigenen
Verderben –
Kleiner Verlust! Mit den Mauern vergehn großmächtige
Städte;
Ganze Länder sogar mitsamt den bewohnenden Völkern
Wandelt in Asche der Brand. […]
Da sieht Phaethon nun, wie auf jeglicher Seite der
Erdkreis
War von den Flammen erfasst, […]
Schwarz, von Dunkel umdrängt weiß er nicht, wohin er
sich wende […] (1)
Die verbrannte und ausgedörrte Erde wendet sich an Jupiter: „Du musst etwas tun. Ich sterbe.“ Der „König der Götter“ hört diese Bitte und schleudert einen Blitz gegen den Sonnenwagen. Phaeton stirbt augenblicklich und seine Leiche stürzt aus dem Himmel, die Haare in Flammen, wie ein Komet. Die angsterfüllten Pferde versinken im Ozean.
Nach dem Tod seines Sohnes ist Phoebus von Kummer übermannt und nicht in der Lage den Sonnenwagen zu lenken. Doch die anderen Götter beschwören ihn, die Zügel zu ergreifen. „Du musst es tun“, flehen sie. „Wir brauchen den Tag.“ Schweren Herzens kehrt er nun an den Himmel zurück. Ganz offenkundig lässt sich diese Geschichte auch als Metapher für den Klimawandel verstehen. Der Planet heizt sich auf. Das Eis schmilzt und die Feuersbrünste wüten. Auf der ganzen Welt werden Rekorde für die heißeste Temperatur in der Geschichte verzeichnet. (Es ist beinahe ein wenig zu treffsicher – so wie in der Geschichte steht der nördliche Polarkreis in Flammen.) In dieser Interpretation ist die Menschheit der Knabe: Unser anmaßender Wunsch, die Kontrolle über das zu erlangen, was niemals uns gehören sollte, führt die Welt in Chaos und Verderben. Ted Hughes schrieb ein auf dieser Geschichte basierendes Gedicht als eine ebensolche Metapher. Aber ich denke wir können es auch ein wenig anders lesen.
Was, wenn wir uns als Leser*innen nicht mit dem Knaben, sondern mit den Menschen auf der Erde identifizieren? Ein weiteres Indiz, um diese Geschichte als passende Metapher für den Klimawandel zu lesen – eine, die von der augenfälligeren Interpretation ignoriert wird – ist die Tatsache, dass sie marginalisierte Menschen ohne Mitspracherecht beinhaltet, die keine Verantwortung für die Zerstörung tragen, die sie durchleben. Wie war es für die Menschen in und auf diesen brennenden Städten und Feldern – wie fühlt es sich an, diese Art der Verwüstung zu erleben? Welche furchtbare Angst würden wir empfinden? Welchen Schrecken und welches Leid?
Dies ist keine theoretische Frage. Die Menschen heutzutage erleben, auf verschiedene und ungleich verteilte Art und Weise, etwas, das keine Generation vor ihnen je erlebt hat: den fortwährenden Verlust des Planeten, wie wir ihn kennen. Das bedeutet vielleicht auch den Verlust unseres Zuhauses durch Feuer oder Überflutung, oder den Verlust einer Landschaft, die unsere Gemeinschaft definiert hat. Wird man ein verkohltes und schwelendes Zuhause wiederaufbauen, im Wissen, dass noch mehr Feuer folgen? Und wenn unsere Stadt im sich ausbreitenden Ozean versinkt, wie viel mehr als nur ein Zuhause ist damit verloren gegangen? Der Klimawandel kann den Verlust eines beliebten Strandes aus der Kindheit bedeuten, eines Waldes, oder einer gefrorenen Schneise der Tundra, die wir als Teil dessen empfinden, was uns ausmacht und wohin wir nun nie wieder zurückkehren können. Wenn Fischgründe aufgegeben werden, weil dort im Meer keine Fische mehr zu finden sind, dann betrifft dieser Verlust ganze Städte und Industrien, die auf diesen Fischbeständen basieren. Es bedeutet den Verlust von Arbeitsplätzen, Einkommen, Nahrungssicherheit und Kultur. Wir haben keine Sprache, um über die Art von Trauer zu sprechen, die ein solcher Verlust zur Folge hat. Wir wissen nicht, wie wir diese Trauer auf eine Art und Weise verarbeiten können, die es uns erlaubt, nach vorne zu schauen.
Es gibt einige wenige Paradigmen für diese Trauer, die vielleicht dazu beitragen können, neue Formen der Klimatrauer zu verstehen. Im klassischen Essay Trauer und Melancholie (1917) unterschiedet Sigmund Freud zwischen zwei Reaktionen auf Verlust. Er beschreibt Trauer als normale menschliche Reaktion auf Verlust, „die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ Melancholie umfasst eine ausgedehntere Periode der Trauer mit all den gleichen Elementen, sowie einer zusätzlichen pathologischen Verkrümmung des Selbstbildes – man beginnt ein wenig sich selbst zu hassen. „Die schwere Trauer“, schreibt Freud, „enthält die nämliche schmerzliche Stimmung, den Verlust des Interesses für die Außenwelt […] den Verlust der Fähigkeit, irgendein neues Liebesobjekt zu wählen – was den Betrauerten ersetzen hieße.“ (2) Mit anderen Worten, man hängt sich an das, was verloren gegangen ist, denn würde man es loslassen, um etwas anderes zu lieben, würde das bedeuten, das verlorene Geliebte zu verleugnen. Obwohl Trauer und Melancholie sehr ähnliche Prozesse sind, hat die Melancholie einfach kein Ende – man bleibt erstarrt, verhaftet in der Melancholie, nicht fähig weiter zu machen.
Ein weiteres klassisches Paradigma der Trauer, das wertvolle Einblicke erlaubt, sind die fünf Phasen der Trauer der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross. Ihr Ansatz deckt sich in groben Zügen mit Freuds Konzept des Trauerns, teilt den Prozess jedoch in Phasen ein: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Annahme. Ich finde es verblüffend, dass in einigen visuellen Darstellungen dieses Prozesses, dieser als horizontale Linie mit zwei Erhebungen wiedergegeben ist, wobei die zweite Erhebung die „Annahme“ ist, die zudem höher erscheint als die erste Erhebung, was darauf schließen lässt, dass sich die*der erfolgreich Trauernde nun auf einer höheren, und damit besseren, Position befindet als zuvor.
Wenn das Modell von Kübler-Ross einen Prozess beschreibt, der Freuds Trauer nahesteht, dann erläutert ein drittes Paradigma, das in den 1990er-Jahren entwickelt wurde und als „komplizierte Trauer“ bekannt ist, einen Prozess, der wiederum der Melancholie näherkommt. Die Symptome der komplizierten Trauer sind die gleichen wie jene der „normalen“ Trauer – das bestimmende Element ist die Dauer der Gefühle. Die*der Trauernde bleibt in einer frühen, akuten Phase des Leides stecken, in der die Zukunft trostlos und leer erscheint. Dr. Katherine Shear von der Columbia University zufolge, kommt komplizierte Trauer nur bei einem kleinen Prozentsatz von Menschen vor, die zu schwierigen Beziehungen tendieren, sowie eine familiäre oder persönliche Geschichte psychischer Störungen aufweisen. Die*der Trauernde ist nicht in der Lage, Leid im „normalen“ Prozess der Trauer zu verarbeiten und erlebt ihre oder seine negativen Symptome als Möglichkeit, um mit dem verbunden zu bleiben, was verloren gegangen ist. Das lässt wieder an Freud denken: Trauer ist eine Form der Liebe, hört man also auf zu trauern, hat man aufgehört zu lieben – schon das alleine ist schmerzhaft.
Obwohl diese Paradigmen der Trauer zweifellos nützlich sind, betonen doch alle drei die Endgültigkeit. Jemand ist gestorben. Etwas ist verschwunden. Es fand ein konkreter Verlust statt. Es ist die Aufgabe der*des Trauernden, angemessen zu trauern und weiter zu machen. Dies reduziert ihre Nützlichkeit in Hinblick auf das Verständnis von Klimatrauer. Sie sind nicht hundertprozentig auf Klimatrauer anwendbar, da wir oftmals gar nicht wissen, worin der Verlust besteht, oder bestehen wird. Wir wissen nicht, ob die Überflutungsgebiete von heute die Ozeane von morgen sind. Wir können nicht wissen, wie hoch oder wie schnell das Wasser steigen wird. Die Auswirkungen des Klimawandels bieten nicht die Art von Endgültigkeit, die uns tatsächlich bei der Entscheidung loszulassen und weiterzumachen helfen kann.
Als die Familientherapeutin und Psychologin Pauline Boss in den 1970er-Jahren mit Menschen arbeitete, deren Familienmitglieder als im Kampf vermisst galten, entwickelte sie ein neues Paradigma für Trauer, das ich für geeigneter halte: Trauer ohne Abschluss, oder „uneindeutiger Verlust“. Boss beschreibt zwei Arten von uneindeutigem Verlust. Beim ersten ist das Objekt der Liebe physisch abwesend, bleibt jedoch psychisch anwesend, wie im Fall all jener, die einen im Kampf vermissten Soldaten betrauern. (Kürzlich erzählte mir ein Freund von einer Frau, deren Sohn als im Kampf vermisst galt. Als zwanzig Jahre später jemand in Uniform zu ihrem Haus kam, rannte sie zur Eingangstüre, da sie dachte, es könnte er sein.) Bei der zweiten Art von uneindeutigem Verlust ist der Gegenstand der Liebe zwar körperlich anwesend, jedoch psychisch abwesend, wie zum Beispiel geliebte Menschen, die an Alzheimer leiden. Die Person ist immer noch hier – man kann neben ihr sitzen und ihre Hand halten.
Man kann immer noch im selben Raum sein, aber in gewisser Weise ist die Person nicht mehr wirklich anwesend. Wie trauert man über den Verlust von jemandem, der genau vor einem sitzt? Wie Boss schreibt: „Es gibt keinen Abschluss. Die Herausforderung liegt darin, zu lernen, mit der Uneindeutigkeit zu leben.“
Verlust ohne Abschluss scheint näher an dem zu liegen, was einige Menschen angesichts unserer sich erwärmenden Welt empfinden. Doch selbst uneindeutiger Verlust passt nicht vollends zur Klimatrauer, denn beim uneindeutigen Verlust kann der Endpunkt trotzdem bekannt sein. Wir wissen, dass Alzheimer-Patient*innen schlussendlich sterben werden. Doch was das steigende Meeresniveau betrifft, bleibt das Ende unbekannt und unerkennbar.
Wir haben kein Paradigma für Trauer, die es erforderlich macht, dass wir sowohl Uneindeutigkeit als auch Endgültigkeit akzeptieren. Wir haben kein Paradigma für Trauer, die sowohl persönlich als auch global ist. Die Klimakrise konfrontiert uns mit vielfältigen Arten des Trauerns, die in einem einheitlichen psychologischen Raum untergebracht werden sollen. Individuell und kollektiv stecken wir in einem psychischen Zwischenraum, der sich wie Chaos anfühlt, gewissermaßen aber auch Sinn ergibt. Die Frage lautet, wie wir entscheiden, was wir loslassen sollen, worum wir kämpfen und was wir betrauern, damit wir in einer neuen Zukunft weitermachen können.
(1) Suchier, R. (Hrsg. und Üb.) (1868) Ovids Metamorphosen.
(2) Freud, S. (1917) Trauer und Melancholie.