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Einmal stehenbleiben bitte c Daniel Sadrowski

Einmal stehenbleiben, bitte!

von Manischa Eichwalder & Emilia Sliwinski

Wie überall im Kulturbereich lässt Corona auch das daily business von Kunstvermittlung einfrieren und reißt eine Lücke in eingespielte Abläufe. Rausgekickt aus der sich selbst nachjagenden Produktionslogik lassen sich jetzt neue Räume einrichten, um den Strudel der eigenen Praxis zu verlassen und nach dem Wesentlichen zu fragen: Was will Kunstvermittlung und was bedeutet das gemeinsame Erlebnis für die ästhetische Erfahrung künstlerischer Arbeiten?

Hinein

Kunstvermittlung im öffentlichen Raum ist erst einmal nichts anderes als eine lose Verabredung über die gemeinsame Rezeption von Kunst. Treffpunkt, Zeit, die Art der Fortbewegung und im weitesten Sinne das Thema sind fix – alles Weitere entsteht durch die Beteiligten und ihre Vorstellungen, die durch unterschiedliche Erwartungen, Wünsche und Begehren geformt sind:

Eine Studentin möchte sich auf ihre mündliche Prüfung zu einer Künstlerin in der Ausstellung vorbereiten und hofft auf hilfreiches Insiderwissen. Ein Vater plant mit seiner Tochter den nächsten Sonntagsausflug und freut sich auf eine entspannte, geführte Fahrradtour. Zwei Freundinnen haben letzte Woche im Radio einen Beitrag über die Ausstellung in ihrer Nachbarschaft gehört und wollen mal sehen, was sich in ihrer bekannten Umgebung so verändert hat. Eine Journalistin schreibt einen Artikel über die Ausstellung und möchte an der Tour teilnehmen, um sich die Zusammenhänge zu erschließen. Und die Kunstvermittlerin freut sich auf ihr Lieblingskunstwerk, ist allerdings auch ein bisschen nervös, wie sich wohl die Gruppe zusammenstellen und die Dynamik entwickeln wird. Außerdem fragt sie sich, ob sie gut genug darauf vorbereitet ist, als Botschafterin der Institution die Ausstellung auch diesmal den Erwartungen entsprechend erlebbar zu machen. Da sich also all diese und wahrscheinlich noch viele weitere Perspektiven in einer Vermittlungssituation versammeln, braucht es eine Rahmung. Es braucht eine unabhängige Idee von Kunstvermittlung, die wie ein roter Faden die verschiedenen Interessen mit den Motiven der Ausstellung verwebt und eine gemeinsame Ausgangsbasis schafft.

Immer wieder

Kunstvermittlung stellt kollektive Situationen her, temporäre Versammlungen um eine künstlerische Arbeit, schaltet also etwas zwischen Kunstwerk und Rezipient*in. Sie erweitert die situative Anordnung durch eine soziale und fügt damit der Rezeption die Ebene der Kommunikation hinzu. Im öffentlichen Raum bedeutet Kunst eine Irritation, eine Unterbrechung von alltäglichen und zumeist funktionalen Zusammenhängen: Die künstlerische Arbeit ist ins Leben eingebettet, in eine ihr unbekannte Umgebung. Sie knüpft außerästhetische Beziehungen und schließt gesellschaftliche Realitäten miteinander kurz. Ein wesentlicher Teil dieser hybriden Realität des Kunstwerks im öffentlichen Raum sind die Rezipient*innen, die die Verbindungen vervielfältigen und durch neue Denkbewegungen und Assoziationen erweitern. Kunstvermittlung als Kommunikation über die gemeinsame Rezeption muss also eine Sensibilität für diese Multiperspektivität von künstlerischen Arbeiten entwickeln und kann genau daran ihre eigene Idee herausarbeiten.

Hin und her

Dazu fügt die gemeinsame Bewegung durch den öffentlichen Raum – insbesondere mit dem Fahrrad – ganz neue Variablen in den Rezeptionskontext ein und aktiviert eine Reihe an zusätzlichen Wahrnehmungen: Die Studentin ist fasziniert von der ästhetischen Qualität einer gigantischen Mülldeponie, die auf dem Weg zum nächsten Kunstwerk liegt. Eine der beiden Nachbarinnen bekommt an dieser Stelle Kopfschmerzen und biegt frühzeitig nach Hause ab. Ihre Freundin hat einen Platten und ärgert sich kurz – freut sich dann aber, dass die Vermittlerin ihren Reifen flickt und nicht der einzige Mann in der Gruppe. Die Journalistin ist ganz begeistert vom Fahrradfahren, weil sie bei ihrer Arbeit schon lange nicht mehr so gut durchblutet gewesen ist. Der Vater muss seine Tochter unterwegs mit Sonnencreme eincremen und ein zufälliger Ort entlang der Wegstrecke wird dadurch zum Pausenplatz. Kunstvermittlung schafft den Raum für kollektiven Austausch und stiftet temporäre Allianzen zwischen den Beteiligten. Und diese Eindrücke, Geschehnisse und Stimmungen haben auch Einfluss auf die Wahrnehmung der kommenden und vergangenen künstlerischen Arbeiten.

Dabei soll nicht die Erfahrungsebene gegen die künstlerische Arbeit ausgespielt werden. Es geht vielmehr darum, die Kontextsensibilität von Kunst selbst anzuerkennen und daran die eigenen Beobachtungen immer wieder rückzukoppeln. Kunstvermittlung liefert keine Erklärung über die (Kunst-)Welt, Rechtfertigungen oder Diskurse über Wertigkeit. Sie schafft einen Ort des Wissensaustauschs, einen Ort zur Konfrontation mit anderen Meinungen und zur Reflexion des eigenen Kunstverständnisses. Hier funktioniert die eingeübte und bequeme Haltung des*der Konsument*in nicht, denn das Lernen und Entdecken der eigenen und der anderen Perspektive bedarf immer wieder der Positionierung im aktuellen Geflecht. Das bedeutet nicht nur eine Abwendung vom blinden Vertrauen in die autorisierte und monopolisierte Sprecher*innenposition des*der Vermittler*in, sondern erfordert auch einiges an persönlicher Hingabe, nämlich die Bereitschaft sich auf ungewohnte Situationen einzulassen und den Mut zur Verletzlichkeit.

Herum

Wenn also die eigene Idee von Kunstvermittlung maximale Offenheit für die Kontextsensibilität von Kunst bedeutet, dann fungiert die Vermittlung als eine Art Moderation, die genau diese Haltung als Rahmung für den gemeinsamen Austausch setzt. Sie aktiviert unterschiedliche Perspektiven auf die künstlerische Arbeit und navigiert zwischen verschiedenen Denkbewegungen, um die Situation immer wieder und anders für alle zu öffnen. Dabei bringt sie selbst an den entsprechenden Stellen ihr Wissen und ihre Überlegungen zu den künstlerischen Arbeiten und Orten ein. Allerdings ist es am Ende vielleicht die Nachbarin, die mit der Studentin ihr ganzes Insiderwissen über den Aufbau der künstlerischen Arbeit teilt. Oder die Journalistin erzählt dem Mädchen, warum sie ihren Job so spannend findet. Das Mädchen wiederum versteht, was Kunst eigentlich soll und wünscht sich von ihrem Papa eine Kamera, während der der Vermittlerin einen Crashkurs zum Thema Verkehr und Umweltschutz gibt.

Kunstvermittlung bedeutet das Sammeln von Geschichten und den Austausch von Erzählungen. Sie bedeutet den Wechsel zwischen Blickwinkeln und Perspektiven. Sie ist eine demokratische Übung im Umgang mit Lebensentwürfen. Und sie muss als soziales Experiment immer wieder neu ausprobiert werden.

Das Vermittlungsprogramm zum Ruhr Ding bietet Irrlichter-Touren an. Dies sind geführte Besuche der Ausstellung, bei denen zu Fuß oder mit dem Fahrrad verschiedene Kunststandorte und ihre Umgebung miteinander verbunden werden.

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