Magazin

Netzstadt Ruhr Das Ruhrgebiet als Rhizom c Liebermann Kiepe

Netzstadt Ruhr: Das Ruhrgebiet als Rhizom

von Dr. Thomas Ernst

Städte ändern ihre Bedeutung. Wenn Fabrikhallen und Einkaufsstraßen verschwinden, produzieren eine globalisierte Ökonomie und ein digitalisierter Alltag andere Stadträume. In der Stadtforschung der letzten Dekaden weisen Modelle wie The Global City, die Intercultural City oder die Postmetropolis in neue Richtungen, die auf die spezifischen Anforderungen des 21. Jahrhunderts eingehen.

Städte können gelesen werden. Michael Butor beschreibt in La ville comme texte die Stadt als einen doppelten Text: einerseits sind Stadträume Ansammlungen offen liegender Texte wie Reklametafeln, Straßenschilder oder Alltagsgespräche; andererseits besitzt der Stadtraum selbst eine Struktur, die ihn für Bewegungen der Lektüre öffnet. Wir können Berlin als mächtige Hauptstadt lesen und linear durchschreiten: an der Siegessäule beginnen, durch das Brandenburger Tor und entlang der Abgeordnetenbüros des Bundestags Unter den Linden laufen, um schließlich das erneuerte Stadtschloss zu bewundern: Stadtgestaltung als Architektur der Macht. Metropole.
Globalisierung und Digitalisierung haben die Bedeutung des lokalen Raumes und seiner Macht jedoch relativiert – mit Brexit und Schutzzöllen als Gegen-Ausschlägen. Die neue Utopie sind Städte der Superdiversity oder Open Source Cities, und der Stadtforscher Hartmut Häußermann konstatiert bereits im Epochenschwellenjahr 2000: „Auf die Frage, was uns die Zukunft bringe, antwortet heute eher ein babylonisches Stimmengewirr als die klare Botschaft einer leuchtenden Metropole.“ Warum aber könnte man dann das Ruhrgebiet als eine solche Anti-Metropole, als eine paradigmatische Netzstadt, als einen rhizomatischen Kunst-Raum lesen?

Größe erdrückt: Das Ruhrgebiet als Anti-Metropole

Das Ruhrgebiet ist mit seinen fünf Millionen Einwohner*innen nach London und Paris einer der größten Stadträume Europas. Seine Bedeutung im Industriezeitalter als Ort der Kohleförderung und der Stahlproduktion war groß, seine Leistung als Schmelztiegel, der unzählige Beispiele glücklicher Arbeitsmigration hervorgebracht hat, bedeutend (man schaue sich nur auf FuPa – das Fußballportal die Aufstellung einer x-beliebigen Kreisligamannschaft aus Oberhausen vom letzten Wochenende an). Zugleich ist der Traum von der souveränen Ruhrstadt, den Alfons Paquet schon in den 1920er Jahren träumte, noch immer nicht eingelöst worden: die Vorstellung einer vereinten Ruhrregion zersplittert noch immer in 53 Städte zwischen Duisburg und Dortmund. Für das Ruhrgebiet als Stadtraum resultiert hieraus die Notwendigkeit, sich selbst „in besonderem Maße durch kollektive Akte, mittels Kommunikation“ zu konstruieren, so der Stadtgeograph Achim Prossek.

Der Übergang vom Malocherzeitalter der Fabriken in die Informationsgesellschaft der Innovationen fällt dem Ruhrgebiet noch immer schwer, die ökonomische Situation ist in vielen Städten desaströs. Das Europäische Kulturhauptstadtjahr 2010 war daher als Dauerfestival zur Stadtortförderung sehr willkommen. Zentral wurde in diesem Zusammenhang der Begriff der Metropole Ruhr gesetzt, der ab 2007 zunächst eine Wirtschaftsförderungsgesellschaft bezeichnet hatte, nun aber dem gesamten Ruhrgebiet und seinem Otto Normalverbraucher, dem Ruhri, neues Selbstbewusstsein geben sollte.

Tatsächlich findet die größte und problematischste Suchmaschine unserer Zeit den Begriff Metropole Ruhr heute 366.000 mal. Allerdings fallen hier, wie so oft, die Wahrheiten von Marketing einerseits sowie von wissenschaftlicher Betrachtung andererseits weit auseinander. In der Stadtsoziologie wird der Begriff der Metropole schon zur Jahrtausendwende als obsolet verabschiedet: Bei Metropole denke man entweder an historisch-politische Zentralen wie das antike Rom oder an die modernen kulturellen Zentren wie das Paris des 19. Jahrhunderts, so Hartmut Häußermann. Heute könne jedoch höchstens noch von Metropolregionen wie Berlin, Hamburg, München oder den Rhein-Ruhr- und Rhein-Main-Regionen gesprochen werden, die allerdings keine zentrale Bedeutung für einen ganzen Nationalstaat mehr besitzen, sondern auf Basis von ökonomischen Vergleichsdaten in Listen miteinander konkurrieren. Entscheidender als ein metropolitanes Selbstverständnis ist die Integration in ein europäisches und globales Netzwerk des ökonomischen und kulturellen Austauschs geworden.

Mit der Selbstausrufung zur Metropole Ruhr hat sich das Ruhrgebiet sozusagen an den Kategorien des 19. Jahrhunderts gemessen und für groß befunden. Zum natürlichen Konkurrenten wird nach dieser Logik dann das politische und kulturelle Zentrum Deutschlands: Berlin. Diese fatale Entscheidung löste Entscheidungsketten aus, die direkt in die größte Katastrophe führten, die das Ruhrgebiet in den letzten Dekaden erfahren musste: Wer Metropole anstelle der Metropole werden möchte, beamt auch eine überlebte Technoparty aus Berlin, die inzwischen zum ortslosen Werbeevent einer Fitnessmarke geworden war, in einen besonders öden Teil Duisburgs zwischen Bahngleisen und Autobahn. Hier war nichts organisch gewachsen oder gar nachhaltig verstanden, die damalige Überforderung der Verwaltung spiegelt sich heute im vergeblichen Bemühen des Rechtsapparats, Verantwortliche für diese Katastrophe zu bestimmen. „Die 21 Toten von Duisburg,“ so der Philosoph Christoph Weismüller, „sind gestorben am Begehren der Metropole.“
Dabei lässt sich die geografische Struktur des Ruhrgebiets gerade nicht als Metropole mit einem klaren Zentrum, sondern vielmehr als ‚Netzstadt‘, als Rhizom, lesen. Schon in den 1970er Jahren haben Gilles Deleuze und Félix Guattari den Begriff des Rhizoms aus der Biologie in die Kulturtheorie übertragen. Während der Begriff in der Biologie die spezifische Form der horizontal wachsenden Sprossachse bezeichnet, die von einer im Boden verankerten Wurzel und in die Höhe wachsenden abgegrenzt werden kann, beschreiben Deleuze und Guattari mit diesem Begriff – vereinfacht gesagt – eine nicht-hierarchische Netzwerkstruktur. Diese Struktur kennt kein Zentrum, ist komplex, multidimensional und in einem ständigen Prozess der Veränderung. Anders gesagt: Ein Rhizom ist sowohl das komplette Gegenteil einer festgelegten Hierarchie als auch einer Metropole, die sich als das scheinbar überzeitliche und klar strukturierte Zentrum der Macht inszeniert.

Das Bild des Rhizoms passt ideal zur historisch gewachsenen geografischen Struktur des Ruhrgebiets, das sich eben nicht um ein Zentrum angeordnet hat, sondern mit dem Steinkohlebergbau vom Tagebau südlich der Ruhr immer weiter in den Norden gewachsen ist. Die vernetzten Maulwurfgänge unter Tage spiegeln sich gleichsam in der Rhizomstruktur über Tage. Karl Ganser, der Macher der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, hat das Ruhrgebiet daher auch als „Anti-Metropole“ bezeichnet, der Stadtplaner Thomas Sieverts nennt das Ruhrgebiet eine „Zwischenstadt“ und beschreibt es als „eine Struktur ohne eindeutige Mitte, dafür aber mit vielen mehr oder weniger stark funktional spezialisierten Bereichen, Netzen und Knoten.“

Diese Rhizom-Struktur der Netzstadt Ruhr wird offensichtlich, wenn man sich nur einmal den Netzplan des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr anschaut, auf dem man keinen zentralen Anlaufpunkt ausmachen kann, auf den sich der Verkehr hinbewegte. Auch das Institut für Raumplanung der Universität Dortmund hat diese rhizomatische Struktur des Ruhrgebiets in Modelle umgesetzt, die es als „polyzentrale Ruhrstadt“, „Band-Ruhrstadt“ oder als „Matrix-Ruhrstadt“ bezeichnet.

Entgegen der politischen, ökonomischen und werbenden Diskurse, in denen der Begriff ‚Metropole Ruhr‘ etabliert wurde, stehen schon lange künstlerische Ansätze, die den rhizomatischen Ruhr-Raum aus Ausgangspunkt für spielerische, subversive, spannende Werke und Projekte nehmen. Ferdinand Kriwets Manifest zur Umstrukturierung des Ruhrreviers zum Kunstwerk von 1968 mag hierfür einstehen. Zwar ist aus dem Ruhrrevier noch nicht das „größte Kunstwerk der Welt“ geworden, viele Vorschläge Kriwets wie die Verwandlung von Kohlehalden zu Kunstobjekten und von Hochöfen zu Lichttürmen sind jedoch Wirklichkeit geworden. Andere wiederum wie der Umbau stillgelegter Zechen in „Vergnügungslabyrinthe“ oder die Einrichtung eines Hubschrauberservices, der „die Betrachtung des größten Kunstwerks der Welt von oben“ ermöglichen würde, warten noch auf ihre Umsetzung.

Verschrobene Figuren wie Tausendsassa Helge Schneider oder Heimorgelgott Mambo Kurt haben hier ihre verspielten Künste entwickelt, Sängerin und Erzählerin Eva Kurowski ihre Lässigkeit. Der langjährige Pförtner des Schauspielhauses Bochum, Wolfgang Welt, lässt in Der Tunnel am Ende des Lichts (2006) sein Alter Ego zwischen strengem Realismus und surrealem Wahnsinn durch das Ruhrgebiet schweifen: „Ich ging die Castroper Straße hoch, und auf ein mal kam mir die Erleuchtung, daß dies die letzte Folge von Dallas sei und ich J.R.“. Ein solches ästhetisiertes Durchkreuzen des Ruhrgebiets oder die konsequente Vermischung unterschiedlichster Stimmen in Wohnprojekten sind zentrale Motive in monumentalen Veröffentlichungen der jüngeren Zeit, wie Jürgen Links über 900seitiger Diskursroman Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung (2008) oder Jochen Gerz‘ 3000seitiges Projekt 2-3 Straßen. Text (2011).

In paradigmatischer Weise spürt Florian Neuner in Ruhrtext. Eine Revierlektüre (2010) dem Ruhrgebiet nach, indem er das situationistische Konzept der Dérive, die experimentelle und ungesteuerte Erkundung urbaner Räume, konsequent auf das Ruhrgebiet appliziert. Seine Dériven führen ihn durch Orte wie Stahlhausen, Hüttenheim oder Heimaterde, zu Veranstaltungen wie dem Gender Terror und an Erinnerungsorte des Aufruhrs: Rheinhausen. Hüttenkampf. Mieterkampf. Märzrevolution. Hier kommt ein in Berlin lebender österreichischer Autor ins Ruhrgebiet, um gerade keine neue Metropole zu suchen, sondern sich von einer rhizomatischen Stadtlandschaft überraschen zu lassen. Seinem Buch hat er ein Leitwort von Guy Debord vorangestellt: „La formule pour renverser le monde, nous ne l’avons pas cherchée dans les livres, mais en errant.“

Hinweis

Dieser Text ist eine aktualisierte, modifizierte und multimedialisierte Version der folgenden Aufsätze von Thomas Ernst: 1) Das Ruhrgebiet als Rhizom. Die Netzstadt und die ‚Nicht-Metropole Ruhr’ in den Erzählwerken von Jürgen Link und Wolfgang Welt. In: Hanneliese Palm/Gerhard Rupp/Julika Vorberg (Hg.): Literaturwunder Ruhr. Essen: Klartext, 2010 (= Schriften des Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Nr. 20), S. 43-70. 2) Urbane ruimtes als metropool of als rizoom. Tegenstrijdige constructies van het Ruhrgebied. In: Cahier voor Literatuurwetenschap. Sonderheft zum Thema ‘Stad en migratie in de literatuur’, hg. von Bart Eeckhout, Arvi Sepp, Lesley Janssen, 8. Jg., Heft 8 (2016), S. 101-113.

Zum Autor

Dr. Thomas Ernst lehrt German Studies, Medientheorie und digitale Kulturwissenschaft an der University of Amsterdam. Er ist in Mülheim an der Ruhr aufgewachsen und war – nach Stationen in u.a. Berlin, Brüssel, Luxemburg und New York – von 2010 bis 2016 Assistenzprofessor an der Universität Duisburg-Essen. Er hat gemeinsam mit Florian Neuner die literarischen Anthologien Europa erlesen: Ruhrgebiet (2009) und Das Ruhrgebiet in der Gegenwartsliteratur (2010) herausgegeben und zahlreiche Aufsätze zur Darstellung des Ruhrgebiets in Literatur, Film, Zeitungen und Musik veröffentlicht. Mehr Informationen unter thomasernst.net.

Irrlichter-Tour durch Steele

Eines Samstagmorgens während der Hitzewelle El Niño ging ich mit sieben anderen in Essen-Steele spazieren und sah mir öffentliche Kunstwerke an, die speziell für Orte geschaffen worden waren ...

Jenseits des Vorstellbaren

Eva Kot'átková im Gespräch mit Britta Peters über die Ausstellung My Body Is Not An Island

Der Kontrollverlust ist die notwendige Voraussetzung für den Schlaf

Inwieweit beeinflussen die Arbeitsbedingungen unser Schlafverhalten? Schläft man besser in der post-industriellen Zeit oder rauben einem Digitalisierung und entgrenzte Arbeitsverhältnisse den Schlaf?