Stimmen aus dem Off: Krisen des Versammelns
von Sybille PetersEin weltumspannendes Ereignis hat jedes der letzten Jahrzehnte gleich zu Beginn definiert: Das Ende des Ostblocks bestimmte die 90er–Jahre, 9/11 bestimmte die 00er–Jahre. Die 10er–Jahre begannen – zumindest für mich – mit der Real Democracy Bewegung, mit Occupy, mit 15M in Spanien, der Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen, mit dem Kampf um den Gezi–Park in Istanbul. Überall entstanden damals Versammlungen, die mit hergebrachten Regeln brachen. Plötzlich wandten sich die vielen gegen die Repräsentation durch die wenigen. Plötzlich waren Küche und Care-Arbeit im Zentrum statt außerhalb der Versammlung. Doch alsbald wurde diese Erneuerung des Versammelns gestoppt und zwar mit reichlich Tränengas. So habe ich größere Teile des letzten Jahrzehnts damit verbracht, neue Formen des Versammelns dort zu proben und zu entwickeln, wo sie niemand verbieten konnte. Dachte ich. Nämlich im Theater. Denn zugleich schien doch klar, dass die Leute sich nicht nicht versammeln konnten: Bildung, Politik, Recht, Religion – alle zentralen gesellschaftlichen Systeme basieren darauf, dass wir zusammenkommen, in Schulen, Universitäten, Parlamenten, in Gerichten und Moscheen, und zwar nach ziemlich alten Regeln, die vielen von uns das Versammeln gründlich vergällen. Also brauchte es Spielräume um damit zu experimentieren, wie wir uns anders versammeln und so womöglich verändern könnten, was Bildung, Politik, Recht oder Religion ist und sein könnte. Das war nicht immer einfach. Sich in Gruppen zu orientieren, gemeinsames Handeln zu initiieren – immer mehr Leuten fiel das zuletzt schwer. Es wurde schwieriger, Menschen von ihren Screens loszueisen und sie in eine geteilte Präsenz zu locken.
Und nun – zu Beginn der 20er – ist das Theater zu, der Spielraum des Versammelns ist geschlossen, und die Screens haben übernommen, was noch übrig war. Nun haben wir eine Idee, welches Ereignis dieses Jahrzehnt definieren wird: Der Virus bringt Versammlung und Care-Arbeit in einen schmerzlichen Gegensatz, und damit brechen viele der traditionellen Versammlungsformen ein, die wir im vergangenen Jahrzehnt zu verändern versuchten. Nun üben sich alle darin, ein neues Normal zu finden, das möglichst ohne Versammlungen auskommt. Und ob- wohl die Fußballfans trauern und die Festivalsaison abgesagt ist, spürt man in diesem neuen Normal doch auch eine große Erleichterung, eine große Versammlungsmüdigkeit. Es ist kein Geheimnis – die meisten von uns haben die Meetings und Plenen gehasst und den Moment des Tages ersehnt, in dem sie sich in ihre Kokons verabschieden durften. Das Recht auf Homeoffice ist die Forderung der Stunde. Und auch wenn wir gern daran glauben wollen, dass viele es gerade wahnsinnig vermissen, sich im Theater zu versammeln,– gerade die Versammlungsmacher*innen sollten die große Versammlungsmüdigkeit nicht übersehen.
Das Verkörpern neuer Regeln lässt neue Wirklichkeiten entstehen und zwar in einem weitreichenden Prozess der Ansteckung. Daran glaube ich. Es ist also möglich, dass ich die Situation überschätze. Denn ich frage mich schon: Wird diese Zeit der Distanz und der Isolation ein Bruch gewesen sein, in dem das Versammeln als Kulturtechnik grundsätzlich den Kürzeren zieht? Wäre das möglich? Ein Jahrzehnt ohne Versammlungen – diese Vorstellung macht mir Angst, denn ich glaube, dass wir Versammlungen brauchen, dass wir allein in unseren Kokons nicht überleben können. Und doch sehe ich in der Versammlungsmüdigkeit auch die Chance auf neue, unbequeme Fragen – auch für die Kunst der Versammlung: Welche Arten von Versammlung wollen wir nicht mehr und warum? Und welche Art von Versammlungen brauchen wir trotzdem, unbedingt und gerade jetzt?
Sibylle Peters ist Künstlerin und Forscherin mit dem Fokus auf partizipativen Formaten.