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Verschiedene Arten der Einfahrt – ­Welcome to the Dirty Archive

von Julia Lübbecke

Viele kleine, menschlich anmutende Wesen lassen sich unter die Erdoberfläche hinab. „Verschiedene Arten der Einfahrt“ steht neben der Abbildung eines Holzschnitts (1556) aus De re metallica von Georgius Agricola, dem Begründer der modernen Geologie und Bergbaukunde, im Bildband Der Bergbau und seine Kultur.[1] Der Bezug zwischen zwei eigentlich sehr unterschiedlichen Bereichen, dem Archiv und dem Bergbau, wird in diesem Archiv, das sich zu einem Großteil aus den Nachlässen einer Bergbaugewerkschaft zusammensetzt, unermüdlich hergestellt.

Zugänge finden, Zugänge offenlegen

An diesem Ort sitze ich nicht allein. Mein Gegenüber gräbt konzentriert, scheint genau zu wissen, wohin, und sollte doch eine Route ins vermeintlich Leere führen, so tun sich trotz – beziehungsweise gerade wegen – der Umwege neue Schätze auf.

Ich habe derweil nicht das eine Ziel vor Augen. Ich versuche jeden Gang zu erwischen, jede Einfahrt zu nehmen, die sich mir eröffnet. Ein gefühlt unmögliches Unterfangen, das mir zwar wie bei einem Flachwurzler Breite bietet, die Tiefe jedoch in weite Ferne rücken lässt. Wie ein vielarmiges Wesen, eine Krake oder ein Schlangenstern, bewege ich mich mit tausend Fäden in den Händen, die sich permanent ent- und im nächsten Moment wieder verwirren. Ich befürchte an der einen oder anderen Stelle den Faden zu verlieren oder ihn bereits verloren zu haben. Dabei schenkt mir die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann Trost, wenn sie diese Art des „Aus-den-Augen-Verlierens“ als Vergessenspraktik darstellt; als eine „nicht intentionale Abwahl“ von dem, „was vielleicht in entlegenen Depots wie Dachböden oder Kellerräumen unbeachtet weiterexistiert und […] bei Gelegenheit noch einmal ans Licht gebracht werden kann“.[2]

Im Schatten
Ich mag Dichotomien nicht. Mir gefällt, wenn Erinnern und Vergessen nicht als sich gegenseitig ausschließende Momente gefasst und stattdessen Zwischenräume, sogenannte Liminal Spaces, eröffnet werden. Hier beginnt ein fragiles Feld aus komplexen Fragen, welches ich in der Kürze dieses Textes nur peripher betreten kann. Wer oder was wird erinnert und wie? Wer möchte überhaupt erinnert werden? Das Recht haben, vergessen zu werden.[3]

Ausheben
Angesichts der sich vor mir eröffnenden Vielzahl an Datensätzen fühle ich mich getrieben. Durch die eher knapp gehaltenen Informationen zu den jeweiligen Akten hat alles und nichts Potenzial. So lasse ich mehr und mehr Akten ausheben, und die sich vor mir ausbreitende Ansammlung stellt eine endlose Herausforderung dar, alles muss aufgenommen werden. Eine Rastlosigkeit stellt sich ein, jeden Tag falle ich erschöpft ins Bett. Mein Körper tut weh nach einem Arbeitstag, an dem man Akten und Bücher möglichst schnell zwischen Räumen hin und her bewegt hat, um sie am Scanner zu digitalisieren. Ich trage, halte, stehe, während ich versuche, die Inhalte in meinem Kopf abzulegen. In dieser Zeit wird mein Körper zur Verlängerung der mir vorliegenden Körperschaften. Hinzu kommen die sichtbaren Spuren wie die von Dreck und Staub verfärbten Finger. Auch in diesem Archiv hinterlässt die prekäre Situation vieler Archive Spuren an den Akten, die nicht den Ansprüchen einer nachhaltigen Aufbewahrung entsprechend versorgt werden können.

Auffressen
Kurz nach meiner Zeit vor Ort höre ich während eines Vortrags von Katja Teichmann, die in der Frauenbibliothek LIESELLE und dem dazugehörigen Archiv tätig ist, ein Zitat in Bezug auf die Arbeit in selbstorganisierten, sogenannten freien Archiven oder Archiven von unten: „Die Archivarbeit frisst uns auf.“ Ein starkes Echo hallt in meinem Inneren, und mir kommen wieder die vielarmigen Wesen in den Sinn. Wer ist hier eigentlich die Krake?

Ich muss an die hinduistische Göttin Durga denken. Obwohl ich meine Arbeit in keinerlei göttlichen Bezug setzen würde, ersehne ich hier eine Hilfestellung finden zu können, wie man sich mit vielen Armen fortbewegt. Während meiner Recherche stolpere ich über die Übersetzung ihres Namens. Durga bedeutet wortwörtlich „die schwer Zugängliche, die schwer zu Begreifende“.

Also hoffe ich, dass mir durch meine Aufgabe, ein komplexes unterirdisches Zugangssystem zu legen, und mein Ringen mit der mich verschlingenden Krake – oder der sich mir entziehenden Durga – der ein oder andere neue Arm gewachsen ist. Sodass ich den vielfältigen Berührungen und Öffnungen nachspüren kann.

Julia Lübbecke (*1989 in Gießen) studierte an der Royal Academy of Fine Arts in Antwerpen, an der UMPRUM – Academy of Arts, Architecture and Design in Prag und der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.

Ihre transdisziplinäre Praxis umfasst skulpturale Installationen, Fotografie, Text sowie Video und performative Elemente. 2019 war sie Preisträgerin des IKOB Kunstpreis für feministische Kunst und 2020 Teilnehmerin des Goldrausch Künstlerinnenprojekts.

Julia Lübbecke war von Okt—Dez 2021 Residentin im Haus der Geschichte in Bochum.



[1] Gerhard Heilfurth: Der Bergbau und seine Kultur, 1981, S. 107.

[2] Aleida Assmann: Archive im Wandel der Mediengeschichte, in: Ebeling/Günzel: Archivologie: Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, 2009.

[3] Diesen Gedanken habe ich zum ersten Mal in einem Gespräch mit der Künstlerin Chan Sook Choi gehört, mit dem sie ihren mehrjährigen Arbeitskomplex FOR GOTT EN beschrieb.

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